Schriften: Autobiographische, Literarische, Politische by Dostojewski Fjodor

Schriften: Autobiographische, Literarische, Politische by Dostojewski Fjodor

Autor:Dostojewski, Fjodor [Dostoyevsky, Fyodor]
Die sprache: deu
Format: epub
veröffentlicht: 2024-01-14T00:00:00+00:00


Von der Liebe zum Volke

Der unumgänglich notwendige Vertrag der Gesellschaft mit dem Volke

Vor kurzem schrieb ich, daß unser Volk noch roh und unwissend sei und dem Laster ergeben: „ein Barbar, der das Licht erwartet,“ wie ich mich ausdrückte! Bald darauf habe ich in der „Hilfe“ einen Artikel Konstantin Akssakoffs, unseres unvergeßlichen und allen Russen teuren Verstorbenen, gelesen, nach welchem unser russisches Volk schon lange aufgeklärt und gebildet sein soll. Ist nun dieser augenscheinliche Gegensatz meiner Meinung und derjenigen Konstantin Akssakoffs ein Widerspruch? Nicht im geringsten: ich teile seine Ansicht vollständig und fühle ihre Wahrheit schon lange. Trotzdem aber bleibt doch der Widerspruch? Gewiß – darin besteht gerade mein Geheimnis: während nach der Meinung anderer diese beiden Behauptungen unvereinbar scheinen, behaupte ich das Gegenteil. In dem russischen Menschen, in dem Volke muß man eben die Schönheit dieser Barbarei zu sehen verstehen. Der ganzen russischen Geschichte nach war unser Volk so dem Laster ergeben und dermaßen verdorben, verirrt und ständig gequält und gepeinigt, daß es wunderbar ist, wie es überhaupt noch sein menschliches Aussehen hat bewahren können, und nicht nur das allein, sondern auch noch seine volkliche Schönheit. Die aber hat es sich wirklich bewahrt! Wer ein aufrichtiger Freund des Volkes ist, wem das Herz nur einmal für die Leiden des Volkes geschlagen hat, der versteht es und wird auch den Schmutz entschuldigen, in den unser Volk gesunken ist, und die Perlen trotzdem zu finden wissen. Ich wiederhole es: Richtet nicht das russische Volk nach seinen Fehlern und Lastern, sondern beurteilt es nach seinen großen und heiligen Idealen, nach denen es in seinem Schmutze lechzt. Und es gibt in unserem Volke nicht nur Schurken und Verbrecher, sondern auch Heilige, die uns voranleuchten und unser Dunkel erhellen! Und ich glaube tief und fest, daß es bei uns keinen Schurken gibt, der nicht wüßte, daß er schlecht und gemein ist. Bei den anderen Völkern ist es anders: wenn dort jemand eine Gemeinheit vollführt, so stellt er sie zum Prinzip auf, bejaht sie, behauptet, daß in ihr die Ordnung und das Licht der Zivilisation läge – und der Unglückliche kommt schließlich so weit, daß er daran blind und sogar ehrlich glaubt. Nein, beurteilen Sie unser Volk nicht danach, wie es ist, sondern danach, wie es sein möchte. Seine Ideale sind stark und heilig, und sie retteten das Volk in all diesen Jahrhunderten vor dem Elend und dem völligen Untergang. Sie wuchsen mit seiner Seele zusammen und gaben ihr bis in alle Ewigkeit Einfachheit, Gutmütigkeit und Aufrichtigkeit und einen weiten, offenen Verstand – und alles das in einer anziehenden, zusammenklingenden, einer schönen Vereinigung. Und wenn trotzdem so viel Schmutz in dem russischen Menschen ist, so leidet er darunter selbst am meisten: er glaubt und hofft, daß das nur zeitlich und eine teuflische Versuchung sei, daß die Dunkelheit, die ihn umgibt, einmal aufhören und das ewige Licht dann auch auf ihn herniederscheinen werde. Ich will noch nicht einmal von seinen historischen Idealgestalten reden, von Feodossij Petscherski[18] oder Tichon Sadonski.[19] Übrigens: wie viele von uns kennen denn überhaupt



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